Volle Kontrolle

Es sei die Obsession eines Wissenschaftlers, alles genau wissen, messen und kontrollieren zu wollen. Mittlerweile ist es nicht nur in Systembiologie und personalisierter Medizin möglich, große Informationsmengen zu generieren und zu verarbeiten. Auch in unserem Sozial- und Privatleben ist die Datenerfassung auf dem Vormarsch. Zu welchen Extremen dies führen kann, spüre ich gerade am eigenen Leib.

Es begann vor vielen Jahren im Internat: Regelmäßiges Rennen, Buchführen über Distanzen und Dauer, der stete Gang auf die Waage. Dann die Einsicht: Nur Strecken, Geschwindigkeiten und Gewichte sind nicht sonderlich informativ. Seither gar keine Messungen mehr. Sport wurde impulsiver. Ein Lebenswandel hielt Einzug. Fortan kein Alkohol, ohnehin noch nie Kaffee oder Cola, erst vegetarische, schließlich vegane Ernährung.

In Israel ist zumindest Letzteres kein Problem. Durch die koschere Küche findet man viele Milch-freie Lebensmittel, und in Tel Aviv existieren gefühlt mehr vegane Restaurants und Supermärkte als in der Hipster-Hauptstadt Berlin. Mit einer solchen Ernährung geht dennoch ein Mehr an organisatorischem Aufwand einher. Es muss kalkuliert werden, was man wovon zu sich nimmt, und wo man es konsumieren kann. Ich empfand mich immer schon als recht genügsam, vergaß bei allem Forschungsdrang bisweilen Essen und Schlafen, was nicht sonderlich an mir zehrte. Dabei schwang jedoch allmählich die Befürchtung mit, dieser Lebensstil könne auf lange Sicht meine körperliche Verfassung beeinträchtigen.

In Israel wollte ich den Fokus neu setzen; mit einer bewussteren Lebensweise. Ich meldete mich im Campus-eigenen Fitness-Studio an. Dort vermaß man mich genau. Körpergröße und -gewicht wurden ebenso festgehalten, wie Körperfett-Werte, Muskelmasse, energetischer Grundumsatz, Stoffwechsel-Alter usw.

Ich wollte zunehmen. Gemäß dieses Ziels und basierend auf den vorangegangenen Messungen wurde von einer Expertin mein persönliches Fitnessprogramm zusammengestellt, das alle Körperteile mit einbezog. Ich teilte der Trainerin mit, ich sei gewillt, das anderthalbstündige Programm an jedem zweiten Tag abzuspulen. Nach acht Wochen würde dann nachgemessen und nachgebessert werden. Jedoch wusste ich nicht, was ich erwarten durfte. Ich fragte, wieviel Muskelmasse man in der ersten Phase zusätzlich aufbauen könnte: 0,1%, 1%, 10%?

“Das ist unmöglich zu prognostizieren. Aber eines ist gewiss: Sie müssen viel essen und viel schlafen.” Mir war sofort bewusst, dass das der mit Abstand schwierigste Teil des Programms werden würde.

Ich folgte den Vorgaben und der erste spürbare Effekt betraf meine Regenerationsfähigkeit. Während ich nach dem erstmaligen Üben noch drei ganze Tage benötigte, um mich wieder frisch statt erschöpft zu fühlen, hätte ich nach zweieinhalb Wochen locker mehrmals täglich voll trainieren können. Allerdings gönnte ich meinem Körper stets einen Tag zwischen den Einheiten zur Regeneration und zum Muskelaufbau. Meine Ernährung stellte ich ebenfalls um. Den hohen Eiweißbedarf versuchte ich nach den Vorgaben auf simplehappykitchen.com zu decken: viel Tahini, viel Humus, viele Linsengerichte. Ich verteilte mehrere kleine Mahlzeiten über den Tag und fühlte mich gut dabei. Den Schlaf richtig zu dosieren, erforderte weitaus mehr Disziplin. Arbeitsbedingt gelang es mir nicht immer, wirklich ausreichend Schlaf zu erhalten. Allerdings zollte ich dem Trainingspensum dadurch Tribut, dass ich am Morgen nach den nächtlichen Einheiten unter der Woche schlichtweg länger schlief als sonst. Wenn man erst 23 Uhr vom Training zurück ist, kommt man am nächsten Morgen nicht um 5 Uhr aus dem Bett, was mir anderweitig sonst keine Probleme bereitet hätte.

Bessere Kontrolle über den Schlaf war dann auch ein Grund, warum ich überlegte, mir einen Fitness-Tracker zuzulegen. Zwar war mir bewusst, dass diese nicht vollkommen risikofrei funktionieren, weil man sie (wie jedes Gerät) hacken kann. Die weitaus größere Gefahr stellte jedoch ein anderer Aspekt dar; nämlich das Verlangen nach permanenter Effizienzsteigerung und voller Kontrolle. Neben der ständigen, automatisierten Aufzeichnung von Herz- und Schritt-Frequenzen, Energieumsatz und Ruhephasen, kann man die handelsüblichen Geräte nämlich auch mit Informationen über Ernährung, Gewichtsveränderungen usw. speisen – in nahezu beliebiger Detailtiefe. Dendemann hat über diesen Kontrollzwang bereits in seinem Track “Volle Kontrolle” gerappt.

“Hab Mutters Herdplatten observiert, // auf dass die Eieruhr ihren Job verliert.”

Letzten Endes habe ich mir im Einzelhandel dennoch einen Fitness-Tracker zugelegt. Übrigens mit phänomenaler Beratung und satten 57% Rabatt, was mir Amazon und andere Online-Ausbeuter niemals hätten bieten können.

Mein Fazit fällt positiv aus. Bisher habe ich der Versuchung widerstanden, das Gerät mit zusätzlichen Informationen zu versorgen und mein Verhalten ins Extreme zu treiben. Die Angaben über meinen Schlafrhythmus sind sehr aufschlussreich und ermöglichen nun anschauliche statistische Analysen. Die erste Auswertung meines Trainingsprogramms im Fitness-Studio steht noch aus. Ich verbuche die Umstellungen bereits als Erfolg, weil ich mich schlichtweg besser fühle. Vielleicht werde ich dies in Zukunft noch mit ein paar Zahlen hier untermalen.

Es begann vor vielen Jahren im Internat. Heute immer noch geregelte Bahnen: Im Internet per Fitness-App. Ich erlangte die volle Kontrolle, alle Informationen über meine körperliche Verfassung verfügbar an meinem Handgelenk. Als Wissenschaftler weiß ich das zu schätzen. Und ich habe gelernt, bedacht und behutsam damit umzugehen.

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