Die COVID19-Pandemie bedeutet eine Zäsur in unser aller Lebensgeschichten. Nicht erst seit Ausbruch der Lungenkrankheit geht ein Riss durch unsere Gesellschaft. Aber der Corona-Virus hat uns das Auseinanderdriften verschiedener Lebensrealitäten verdeutlicht und dieses verstärkt. Plötzlich gibt es nicht nur Reich und Arm, sondern auch Geimpfte und Impfgegner:innen, Menschen, die der Wissenschaft vertrauen und solche, die wissenschaftliche Erkenntnisse leugnen – samt aller Schattierungen. Ein Werkzeug, um den entstandenen Schaden zu reparieren, kann ein Impfstoff sein, der vor COVID19 schützt. Mehr als sieben Milliarden Impfdosen gegen den Corona-Virus wurden bisher verabreicht (Quelle, Stand 2.11.2021). Es ist eine unvergleichliche Erfolgsgeschichte, die zu großen Teilen in Deutschland geschrieben wurde. Das Mainzer Unternehmen bioNTech entwickelte in Zusammenarbeit mit dem US-Konzern Pfizer den weltweit ersten zugelassenen Impfstoff gegen COVID19. Der Financial Times-Journalist Joe Miller hat die beiden Firmengründer:innen Prof. Dr. med. Uğur Şahin und Dr. med. Özlem Türeci seit März 2020 begleitet und blickt in dem Buch “Projekt Lightspeed” nun gemeinsam mit den beiden auf die Zeit zurück.
Heimische Erfolgsgeschichte
Generell ist es hochinteressant, diese spannende Geschichte (mit mittlerweile bekanntem Happy End) nacherzählt zu bekommen. Miller erwähnt dabei zu Anfang, dass das gesammelte Material für mehrere Projekte genügen würde. Das Springen zwischen Krebstherapie-Geschichte und COVID19-Impfstoff-Entwicklung ist ein Manko, das den Erzählfaden bisweilen abreißen lässt. Aufschlussreich ist das Buch jedoch dank seiner Beschreibungen der Forschungslandschaft und Gründungs-Szene in Deutschland. Man schreibt sich das Innovationspotenzial der Forschung hierzulande gern auf die Fahnen, und es kann in der Tat einen Weg eröffnen, um strukturschwache Regionen abseits der Exzellenz-Cluster zu fördern (siehe BMBF-Programm-Familie “Innovation & Strukturwandel”). Zudem wird in Forschung und Entwicklung beachtlich investiert (App der UNESCO). Einzig im Übergang von Grundlagenforschung zur Wirkstoff-Anwendung und Unternehmensgründung hängt Deutschland den eigenen Ansprüchen hinterher. Deswegen nimmt man sich jetzt immer mehr ein Beispiel an Israel, einer (nicht nur selbsternannten) “Start-Up”-Nation, wo bspw. die Helmholtz-Gemeinschaft ein Büro eröffnete (Helmholtz-Präsident Wiestler: “Israels Dynamik ist beeindruckend“).
Aller widrigen Umstände zum Trotz war bioNTech erfolgreich, was zuvorderst den Führungspersönlichkeiten Şahin und Türeci zuzuschreiben ist. Diese scheinen sich persönlich zurück zu nehmen und auf eine wissenschaftsbesessen-sympathische Art bescheiden zu sein. Während Miller am Ende hauptsächlich die Herkunft von Şahin und Türeci aus der Türkei thematisiert, interessierte mich primär eine andere Art der Kultur: Die Rolle der beiden als Führungsfiguren.
Führungskulturschock
Es wird richtigerweise benannt, dass der Zufall in der Wissenschaft eine große Rolle spielt: Das richtige Experiment zur richtigen Zeit bei den richtigen Gutachter:innen zur Veröffentlichung/Förderung eingereicht. Darüber hinaus sei es aber Charakter & Persönlichkeit, “das gewisse Etwas”, das oft den Unterschied mache. Ich frage mich, was dieses gewisse Etwas auszeichnet. Wie erkennt, fördert und bewahrt man geeignete Forschungspersönlichkeiten? Bei der Einstellung von Leuten für meine eigene wissenschaftliche Nachwuchsgruppe suche ich zuvorderst nach Neugier; Begeisterungsfähigkeit für das, was wir über Biologie bereits wissen, und das, was wir noch immer nicht verstehen (gepaart mit einer gewissen Demut deshalb!) Diese Eigenschaften sind zweifelsohne bei Şahin und Türeci über alle Maßen vorhanden.
Eventuell gibt es sogar ein Zuviel an Besessenheit für wissenschaftliche Veröffentlichungen. Auf jede Reise einen Koffer mit zwei separaten Bildschirmen für die Lektüre mitzunehmen und den Urlaub für die Erledigungen von Papierkram zu blocken, sendet falsche Signale an die Belegschaft. Ich weiß, dass es harte Arbeit braucht, dass sie notwendig ist, um erfolgreich zu sein. Doch den eigenen Arbeitsethos in dieser Art zur Schau zu stellen, ist unnötig und kontra-produktiv. Denn es gibt Alternativen: Für Transparenz sorgen und Aufgaben delegieren. Sonst wird Erschöpfung und anderen Erkrankungen Vorschub geleistet. Zwar wird betont, dass bei bioNTech niemand verpflichtet wird, an Wochenende zu arbeiten, aber man kann das seinen Mitarbeiter:innen auch gelegentlich vorleben. In Rücksprache mit den Leuten meines Teams beantworte ich während meines Urlaubs etwa keine E-Mails.
Das Erfolgsrezept benennt Şahin mit einem Zitat aus einem Batman-Film: “Training ist nichts, nur der Wille entscheidet”. Das verkennt jedoch die Ausbildung und Förderung, die Şahin und Türeci zuteil wurden. Sicherlich ist die richtige Einstellung wichtig und notwendig, hinreichend ist sie keinesfalls.
Implizit verheerendes Frauenbild
Während die Herkunft von Şahin und Türeci immer wieder thematisiert wird, geht es um Geschlechterrollen nur indirekt. Die Erzählung ist meinem Empfinden nach sehr auf Şahin als Helden fixiert. Bei einer Präsentation für chinesische Kooperationspartner:innen tritt er auf als Jemand, der lässig das Business-Shirt über den Badeshorts trägt, während Türeci ausschließlich als verängstigt beschrieben wird, weil sie ihre Folien (die auf Chinesisch verfasst sind) nicht lesen kann. Während Şahin “seine” (sic!) Theorien nach dem gemeinsamen Lesen wissenschaftlicher Veröffentlichungen entwickelt, wird Türeci einmal explizit beschrieben, wie sie sich bestätigt fühlt, nachdem sie den Drosten-Podcast gehört hat, der bekanntermaßen Wissenschaft für Laien kommuniziert. Darüber hinaus wird erzählt, Türeci wäre lange mit der “Einrichtung” des Labors in Mainz beschäftigt gewesen, was etwas nach Dekorateurin anmutet, aber eigentlich die technische Ausstattung der Forschungsräume meint. Sie gesteht ein, dass die Suche nach der richtigen Lipid-Zusammensetzung viel trial-and-error enthielt, also stupides Ausprobieren und Scheitern, und nicht einen genialen Plan.
Erst dachte ich, dass ich diese Punkte zu sehr überzeichne, aber dann schaute ich auf die Internetseite des Rowohlt-Verlages, der das Buch herausgibt. Dort werden sowohl Şahin als auch bioNTech-Mitgründer Huber mit vollen Titeln “Prof. Dr.” genannt, während der Doktortitel von Türeci gänzlich fehlt.
Diese kleinen Teile fügen sich – gewollt oder ungewollt – zu einem Bild zusammen, das eine misogyne Wissenschaftslandschaft zeichnet, die ich selbst erfahren habe, und im Song Circus thematisiere. Es ist diese Frauenfeindlichkeit, die unsere Gesellschaft weiter spalten wird, aller antiviraler Kitts zum Trotz.
Taugt das Projekt Lightspeed deshalb zum Prototyp? Sicherlich nur bedingt. Die Innovations- und Begeisterungsfähigkeit von Şahin und Türeci sind vorbildlich und erfahren jedwede Würdigung zurecht. Daraus ergibt sich jedoch leider noch lange kein Lob für die deutsche Technologie-Branche und ein Wissenschaftssystem voller Ungerechtigkeiten.