Prototyp Lightspeed?

Die COVID19-Pandemie bedeutet eine Zäsur in unser aller Lebensgeschichten. Nicht erst seit Ausbruch der Lungenkrankheit geht ein Riss durch unsere Gesellschaft. Aber der Corona-Virus hat uns das Auseinanderdriften verschiedener Lebensrealitäten verdeutlicht und dieses verstärkt. Plötzlich gibt es nicht nur Reich und Arm, sondern auch Geimpfte und Impfgegner:innen, Menschen, die der Wissenschaft vertrauen und solche, die wissenschaftliche Erkenntnisse leugnen – samt aller Schattierungen. Ein Werkzeug, um den entstandenen Schaden zu reparieren, kann ein Impfstoff sein, der vor COVID19 schützt. Mehr als sieben Milliarden Impfdosen gegen den Corona-Virus wurden bisher verabreicht (Quelle, Stand 2.11.2021). Es ist eine unvergleichliche Erfolgsgeschichte, die zu großen Teilen in Deutschland geschrieben wurde. Das Mainzer Unternehmen bioNTech entwickelte in Zusammenarbeit mit dem US-Konzern Pfizer den weltweit ersten zugelassenen Impfstoff gegen COVID19. Der Financial Times-Journalist Joe Miller hat die beiden Firmengründer:innen Prof. Dr. med. Uğur Şahin und Dr. med. Özlem Türeci seit März 2020 begleitet und blickt in dem Buch “Projekt Lightspeed” nun gemeinsam mit den beiden auf die Zeit zurück.

Heimische Erfolgsgeschichte

Generell ist es hochinteressant, diese spannende Geschichte (mit mittlerweile bekanntem Happy End) nacherzählt zu bekommen. Miller erwähnt dabei zu Anfang, dass das gesammelte Material für mehrere Projekte genügen würde. Das Springen zwischen Krebstherapie-Geschichte und COVID19-Impfstoff-Entwicklung ist ein Manko, das den Erzählfaden bisweilen abreißen lässt. Aufschlussreich ist das Buch jedoch dank seiner Beschreibungen der Forschungslandschaft und Gründungs-Szene in Deutschland. Man schreibt sich das Innovationspotenzial der Forschung hierzulande gern auf die Fahnen, und es kann in der Tat einen Weg eröffnen, um strukturschwache Regionen abseits der Exzellenz-Cluster zu fördern (siehe BMBF-Programm-Familie “Innovation & Strukturwandel”). Zudem wird in Forschung und Entwicklung beachtlich investiert (App der UNESCO). Einzig im Übergang von Grundlagenforschung zur Wirkstoff-Anwendung und Unternehmensgründung hängt Deutschland den eigenen Ansprüchen hinterher. Deswegen nimmt man sich jetzt immer mehr ein Beispiel an Israel, einer (nicht nur selbsternannten) “Start-Up”-Nation, wo bspw. die Helmholtz-Gemeinschaft ein Büro eröffnete (Helmholtz-Präsident Wiestler: “Israels Dynamik ist beeindruckend“).

Aller widrigen Umstände zum Trotz war bioNTech erfolgreich, was zuvorderst den Führungspersönlichkeiten Şahin und Türeci zuzuschreiben ist. Diese scheinen sich persönlich zurück zu nehmen und auf eine wissenschaftsbesessen-sympathische Art bescheiden zu sein. Während Miller am Ende hauptsächlich die Herkunft von Şahin und Türeci aus der Türkei thematisiert, interessierte mich primär eine andere Art der Kultur: Die Rolle der beiden als Führungsfiguren.

Führungskulturschock

Es wird richtigerweise benannt, dass der Zufall in der Wissenschaft eine große Rolle spielt: Das richtige Experiment zur richtigen Zeit bei den richtigen Gutachter:innen zur Veröffentlichung/Förderung eingereicht. Darüber hinaus sei es aber Charakter & Persönlichkeit, “das gewisse Etwas”, das oft den Unterschied mache. Ich frage mich, was dieses gewisse Etwas auszeichnet. Wie erkennt, fördert und bewahrt man geeignete Forschungspersönlichkeiten? Bei der Einstellung von Leuten für meine eigene wissenschaftliche Nachwuchsgruppe suche ich zuvorderst nach Neugier; Begeisterungsfähigkeit für das, was wir über Biologie bereits wissen, und das, was wir noch immer nicht verstehen (gepaart mit einer gewissen Demut deshalb!) Diese Eigenschaften sind zweifelsohne bei Şahin und Türeci über alle Maßen vorhanden.

Eventuell gibt es sogar ein Zuviel an Besessenheit für wissenschaftliche Veröffentlichungen. Auf jede Reise einen Koffer mit zwei separaten Bildschirmen für die Lektüre mitzunehmen und den Urlaub für die Erledigungen von Papierkram zu blocken, sendet falsche Signale an die Belegschaft. Ich weiß, dass es harte Arbeit braucht, dass sie notwendig ist, um erfolgreich zu sein. Doch den eigenen Arbeitsethos in dieser Art zur Schau zu stellen, ist unnötig und kontra-produktiv. Denn es gibt Alternativen: Für Transparenz sorgen und Aufgaben delegieren. Sonst wird Erschöpfung und anderen Erkrankungen Vorschub geleistet. Zwar wird betont, dass bei bioNTech niemand verpflichtet wird, an Wochenende zu arbeiten, aber man kann das seinen Mitarbeiter:innen auch gelegentlich vorleben. In Rücksprache mit den Leuten meines Teams beantworte ich während meines Urlaubs etwa keine E-Mails.

Das Erfolgsrezept benennt Şahin mit einem Zitat aus einem Batman-Film: “Training ist nichts, nur der Wille entscheidet”. Das verkennt jedoch die Ausbildung und Förderung, die Şahin und Türeci zuteil wurden. Sicherlich ist die richtige Einstellung wichtig und notwendig, hinreichend ist sie keinesfalls.

Implizit verheerendes Frauenbild

Während die Herkunft von Şahin und Türeci immer wieder thematisiert wird, geht es um Geschlechterrollen nur indirekt. Die Erzählung ist meinem Empfinden nach sehr auf Şahin als Helden fixiert. Bei einer Präsentation für chinesische Kooperationspartner:innen tritt er auf als Jemand, der lässig das Business-Shirt über den Badeshorts trägt, während Türeci ausschließlich als verängstigt beschrieben wird, weil sie ihre Folien (die auf Chinesisch verfasst sind) nicht lesen kann. Während Şahin “seine” (sic!) Theorien nach dem gemeinsamen Lesen wissenschaftlicher Veröffentlichungen entwickelt, wird Türeci einmal explizit beschrieben, wie sie sich bestätigt fühlt, nachdem sie den Drosten-Podcast gehört hat, der bekanntermaßen Wissenschaft für Laien kommuniziert. Darüber hinaus wird erzählt, Türeci wäre lange mit der “Einrichtung” des Labors in Mainz beschäftigt gewesen, was etwas nach Dekorateurin anmutet, aber eigentlich die technische Ausstattung der Forschungsräume meint. Sie gesteht ein, dass die Suche nach der richtigen Lipid-Zusammensetzung viel trial-and-error enthielt, also stupides Ausprobieren und Scheitern, und nicht einen genialen Plan.

Erst dachte ich, dass ich diese Punkte zu sehr überzeichne, aber dann schaute ich auf die Internetseite des Rowohlt-Verlages, der das Buch herausgibt. Dort werden sowohl Şahin als auch bioNTech-Mitgründer Huber mit vollen Titeln “Prof. Dr.” genannt, während der Doktortitel von Türeci gänzlich fehlt.

https://www.rowohlt.de/autor/ugur-sahin-35294; zuletzt geöffnet 4.11.2021

Diese kleinen Teile fügen sich – gewollt oder ungewollt – zu einem Bild zusammen, das eine misogyne Wissenschaftslandschaft zeichnet, die ich selbst erfahren habe, und im Song Circus thematisiere. Es ist diese Frauenfeindlichkeit, die unsere Gesellschaft weiter spalten wird, aller antiviraler Kitts zum Trotz.

Taugt das Projekt Lightspeed deshalb zum Prototyp? Sicherlich nur bedingt. Die Innovations- und Begeisterungsfähigkeit von Şahin und Türeci sind vorbildlich und erfahren jedwede Würdigung zurecht. Daraus ergibt sich jedoch leider noch lange kein Lob für die deutsche Technologie-Branche und ein Wissenschaftssystem voller Ungerechtigkeiten.

Im Zweifel für den Zweifel

Ich bin mir unsicher. Deshalb bin ich vorsichtig. Das ist normal, ich bin nämlich Wissenschaftler. Die Menschen, die in den Wissenschaften arbeiten sind für Unsicherheiten sensibilisiert: Messfehler, technische Ungenauigkeiten, statistische Schwankungen – all dies gehört zu Experimenten dazu. Daneben existiert jedoch eine Unsicherheit, die sich nicht so gut in Zahlen fassen lässt: die gefühlte Unsicherheit: Richtige Methode? Richtige Interpretation der Ergebnisse? Ich handle zwar in meiner Forschung nach bestem Wissen und Gewissen, doch Wissen ist endlich, und Irren ist menschlich. Deshalb existieren im Wissenschaftsbetrieb verschiedene Instanzen der Rückversicherung: Qualitätskontrolle mittels unabhängiger Begutachtung der Forschungsergebnisse durch die wissenschaftliche Gemeinschaft. Dieses so genannte “Peer-Review“-Verfahren ist ein zentrales Instrument wissenschaftlichen Arbeitens. Einem deutschen Boulevard-Blatt scheint diese Praxis völlig unbekannt. Wissen oder Unwissen hielt dessen Redaktion jedenfalls nicht davon ab, eine skandalöse Rufmord-Kampagne sondergleichen zu inszenieren.

Um den Hintergrund der Aktion gegen Professor Drosten – vor allem aus journalistischer Perspektive – zu verstehen, sei der Podcast “Der Tag” des Deutschlandfunk vom 26.5.2020 empfohlen. Ich möchte das Ganze hier aus der Sicht eines Wissenschaftlers kommentieren.

Ein Plädoyer für offene Wissenschaft und Wissenschaftskommunikation

Die Grauzone

Es mag skurril anmuten, aber es ist vollkommen egal, ob die verwendeten Methoden von Professor Drosten und seinem Team “grob falsch” sind oder nicht. Selten sind in der Wissenschaft absolute Formulierungen wie “richtig” oder “falsch” zutreffend. Sicherlich bestehen einige gut begründete Zweifel, ob beispielsweise die statistischen Verfahren, die angewandt worden sind, die geeignetsten waren. Grob falsch kann man das jedoch nicht nennen. Wissenschaft ist nicht schwarz-weiß. Es existiert eine Grauzone zwischen geeigneten und eher ungeeigneten Methoden sowie den aus Ergebnissen gezogenen Schlussfolgerungen. Ebenso verhält es sich bei guter wissenschaftlicher Praxis und Transparenz: Handelt es sich um streitbare methodische Fehler oder wurde versucht, bewusst zu täuschen? Letzteres kann man im Fall von Professor Drosten ausschließen. Denn die ohnehin mit aller Vorsicht diskutierten Daten wurden mit statistischen Kennzahlen zur Verfügung gestellt, was es der wissenschaftlichen Gemeinschaft erlaubt, andere statistische Verfahren zu testen. Ein möglicher Kritikpunkt hier lautet lediglich, dass die Rohdaten nicht einsehbar sind. Auf Nachfrage sollten diese zur Verfügung gestellt werden. Das Einzige, was sich in diesem Fall aber mit Absolutheit sagen lässt, ist dass die Unterstellung “grob falscher” Methoden an Dummheit oder Böswilligkeit kaum zu überbieten ist.

Der Vordruck: Offen und nicht abgeschlossen.

Die Form, in der Professor Drosten und sein Team ihre Arbeit vorgelegt haben, nennt sich “Preprint“. Dabei handelt es sich um eine Art Vordruck, in dem der erste Entwurf eines Manuskripts über die Forschungsergebnisse der wissenschaftlichen Gemeinschaft zur Verfügung gestellt wird. Dies geschieht zwar öffentlich und ist deshalb der Gesellschaft uneingeschränkt zugänglich, darf aber nicht mit der schlussendlichen Veröffentlichung, einer Publikation, gleichgesetzt werden. Der Zweck des Preprints besteht darin, die wissenschaftliche Gemeinschaft möglichst schnell an Forschungsergebnissen teilhaben zu lassen, damit Kolleginnen und Kollegen sehen, woran gearbeitet wird, was eventuell bereits ausprobiert wurde, und in welche Richtung sich bestimmte Technologien entwickeln. Dies ist in einem so dynamischen Forschungsfeld wie bei einer Virus-Pandemie wichtig. Nur gemeinschaftlich können wir zu einem Erfolg gelangen. Da es bei Entdeckungen im Wissenschaftsbetrieb auch darum geht, wer der oder die Erste ist, besteht natürlich die Gefahr, Ergebnisse voreilig als Preprint zu teilen, um im Zweifelsfall schneller zu sein als die Konkurrenz, wenngleich die Versuch(sergebniss)e noch nicht vollends ausgereift sind. Dabei handelt es sich eine Gratwanderung. Kritisieren kann man, dass das Team von Professor Drosten seine Arbeit auf einer Webseite der Berliner Charité hochgeladen hat, anstatt einen der zentralen Preprint-Server (biorxiv, medrxiv, etc.) zu nutzen. Dort werden Kennzahlen und Kommentare zu Preprints einheitlich organisiert. Außerdem wird darauf hingewiesen, dass es sich bei Preprints um vorläufige Forschungsberichte handelt, die noch nicht begutachtet worden sind. Im Regelfall leitet das Preprint einen wissenschaftlichen Begutachtungsprozess ein, an dessen Ende die Veröffentlichung der überarbeiteten und redigierten Forschungsergebnisse in einem Fachjournal steht. Erst in diesem Stadium sollte man von einer abgeschlossenen wissenschaftlichen “Studie” sprechen. Denn ein Preprint ist nicht abgeschlossen; im Gegenteil – es ist offen (zugänglich!)

Begutachtung, Veröffentlichung, Kommentare

Der Begutachtungsprozess wissenschaftlicher Arbeiten dient zuvorderst der Qualitätskontrolle, um zu verhindern, dass ungesicherte Erkenntnisse oder unsaubere Methoden in wissenschaftlichen Journalen veröffentlicht werden. Außerdem hilft das Verfahren den Forscherinnen und Forschern, ihre Ansätze zu verbessern. Sprichwörtlich ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, dasselbe gilt für das perfekte wissenschaftliche Manuskript. Stattdessen wird der erste Entwurf (zum Beispiel das Preprint) an den Herausgeber oder die Herausgeberin einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift versandt. Wird das Manuskript von der Redaktion für gut befunden, wird es an externe Gutachterinnen und Gutachtern verschickt, die sich auf den betreffenden Forschungsgebieten gut auskennen. Diese erstellen dann jeweils einen Bericht, in dem sie zusammenfassen, worum es in der vorliegenden Arbeit geht, und was für eine Veröffentlichung in dem Journal verbessert werden müsste. Die Berichte können methodische Kritik genauso beinhalten, wie Hinweise zur Interpretation der Daten. Die gesammelten Kommentare werden dann anonymisiert von der Redaktion an die Forscherinnen und Forscher zurückgeschickt, damit diese sie einarbeiten können. Danach wird eine überarbeitete Version des Manuskripts an die Redaktion geschickt, damit diese über die Veröffentlichung im Journal entscheiden kann. Das Prozedere kann sich über mehrere Runden und damit auch Jahre erstrecken. Nach der Veröffentlichung kann die Arbeit dann von der wissenschaftlichen Gemeinschaft weiter kommentiert und diskutiert werden. Dies geschieht neben wissenschaftlichen Tagungen und Konferenzen zuvorderst in Kommentarspalten wissenschaftlicher Zeitschriften, in privaten Blogs, oder auf Plattformen wie Twitter und PubPeer. Nicht selten kommt es vor, dass sich das schlussendlich veröffentlichte Manuskript deutlich von dem ersten eingereichten Entwurf unterscheidet, wie es sich in einer meiner Arbeiten gezeigt hat, deren Begutachtungsprozess in Gänze transparent hier zur Verfügung steht. Uns sind damals ehrliche Fehler unterlaufen, die wir ohne den Begutachtungsprozess nicht bemerkt und folglich nicht korrigiert hätten. Dieses Beispiel zeigt, dass Kritik am ersten Entwurf einer wissenschaftlichen Arbeit nichts Ungewöhnliches ist; und dass der Begutachtungsprozess die Qualität wissenschaftlicher Arbeiten sicherstellt und verbessert.

Wahrheit: Unsicherheit

Was lernen wir aus dieser Geschichte? Wissenschaft ist genauso wenig perfekt wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Sollten wir deshalb auf transparente, offene Wissenschaft und deren Kommunikation verzichten? Nein, im Gegenteil: Es braucht ein Mehr an Wissenschaftskommunikation. Denn das Prozedere wissenschaftlicher Veröffentlichungen und die damit einhergehende Unsicherheit in Ergebnissen und Schlussfolgerungen ist für die Menschen im Wissenschaftsbetrieb meist selbstverständlich. Der Öffentlichkeit scheint all dies unbekannt. Sonst hätte das Boulevard-Blatt trotz aller Verunglimpfungen niemals eine solche Aufmerksamkeit erlangt. Wer Vertrauen in die Wissenschaften stärken will, muss mit Fehlern offen umgehen. Die Konsequenz kann kein Weniger an Wissenschaftskommunikation sein. Daten, Methodenkritik und Revisionen zu verstecken, hilft niemandem. Deshalb sollten wir Professor Drosten als Vorreiter dankbar sein, der komplexe Zusammenhänge erklärt, und zur Vorsicht mahnt, weil Wissen kein Verstehen impliziert. Wir müssen der Öffentlichkeit unseren Enthusiasmus und unsere Ängste als Wissensschaffende mitteilen, das erzeugt Empathie und Vertrauen. Ich bin mir unsicher; so wie die Anderen auch. Aber ich bin mir sicher, wenn ich diese Unsicherheit (mit)teile, können wir sie gemeinsam überwinden, in der Wissenschaft, in der Gesellschaft, in Eintracht. Im Zweifel für den Zweifel.

MEHR ALS NUR FETT!

Übergewicht, Fettleibigkeit, Diabetes, Herz-/Kreislauferkrankungen und andere Stoffwechselstörungen sind ein globales Problem. Mittlerweile gibt es mehr übergewichtige Menschen auf unserem Planeten als unterernährte [1]; und das nicht etwa, weil die Zahl der Unterernährten zurückginge. Nein, die “überwiegende” Mehrheit wächst drastisch an. Diesen Menschen müssen wir helfen. Intuitiv und konventionell lautet der erste Ansatz zur Bekämpfung von Übergewicht zumeist: Diät. Das Problem: Egal ob Ananas-Diät, Friss-die-Hälfte oder Low-Carb etc. – nachhaltige gesundheitliche Verbesserungen bringen diese Herangehensweisen nur selten. Zumal es mit Sicherheit nicht die eine Diät gibt, die allen Menschen gleichermaßen hilft. Deshalb haben wir in Israel einen anderen Ansatz gewählt. Schließlich geht es bei Übergewicht um mehr als nur Fett…

Freunde oder Feinde im Fett?

Es ist bekannt, dass Übergewicht mit einer niederschwelligen Entzündungsreaktion einhergeht. Das heißt, Zellen unseres Immunsystems sammeln sich in den Fett-Depots an und lösen dort ebenjene Entzündungsreaktion, die “Inflammation“, aus. Der Name rührt daher, dass der Prozess neben Rubor (Röte), Tumor (Schwellung) und Dolor (Schmerz) eben auch Calor, also Hitze-Entstehung, hervorruft. Die Auslöser der Entzündungsreaktion im Fett bei Übergewicht sind ebensowenig verstanden, wie Mechanismen zur Linderung bekannt sind. Dennoch liegt es nahe, Substanzen zu suchen, die die Entzündungsreaktion lindern. Wieder führt eine Herangehensweise über die Ernährung. Anti-inflammatorische Diäten liegen voll im Trend [2].

Als Wissenschaftler halte ich wenig davon, Dinge auf gut Glück auszuprobieren, ohne verstanden zu haben, wie in dem Fall die Diät genau wirkt.

Dr. Lorenz Adlung, Systembiologe.

Nur weil es logisch klingt, bedeutet das nicht, dass es hilft. Mit der Gesundheit spielt man nicht. Wir sind den Patientinnen und Patienten gegenüber zu Seriosität verpflichtet. Mit der entsprechenden Ernsthaftigkeit haben wir deshalb unvoreingenommen die Immunzellen im Fett charakterisiert. Denn wir wissen nicht, ob diese die Entzündungsreaktion nur auslösen, oder auch auslöschen können. Einfach gefragt: Sind die Immunzellen Freunde oder Feinde im Fett bei Übergewicht?

Von Maus zu Mensch und zurück

Zunächst haben wir die Immunzellen im Fett von Mäusen vermessen. Dafür haben wir uns einer Technologie bedient, die wir das “molekulare Mikroskop” nennen, welches wir hier in Israel entwickelt haben. Die Funktionsweise erkläre ich in diesem Video etwas genauer. Kurz gesagt können wir mit dem molekularen Mikroskop einzelne Immunzell-Typen im Fett bestimmen. Das haben wir sodann getan; in Mäusen, die über 18 Wochen normale Kost verabreicht bekamen. Die so bestimmten Immunzellen haben wir verglichen mit denen in Mäusen, die zur selben Zeit fettreiche Kost (i.e. 60% Fett) verabreicht bekamen. Erstaunlicherweise fanden wir einen bisher unbekannten Immunzell-Subtyp, der sich im Fett der übergewichtigen Mäuse anreichert, die die fettreiche Kost verabreicht bekamen. Um zu überprüfen, ob diese Anreicherung durch die Fett-Diät ausgelöst wird, haben wir einen Kontrollversuch durchgeführt. Wir nahmen Mäuse, die normale Kost verabreicht bekamen, aufgrund eines Gendefekts allerdings übergewichtig werden. Auch im Fett dieser Mäuse fanden wir unseren neuen Immunzell-Subtyp. Diese Immunzellen reichern sich also völlig unabhängig von der Ernährung im Fett an. Diese Beobachtung legt nahe, dass eine Diät nicht alle Probleme lösen kann, weil sie nicht die Wurzel allen Übels zu sein scheint – zumindest in der Maus. Es drängt sich natürlich die Frage auf, inwieweit das für den Menschen relevant ist. Um dies zu beantworten, untersuchten wir auf dieselbe Weise Immunzellen im Fett von normal- und übergewichtigen Menschen. Wieder fanden wir unseren neuen Immunzell-Subtyp im Fett der Übergewichtigen. Mehr noch, der Anteil dieser Immunzellen korrelierte mit dem Body-Mass-Index der Personen. Der Body-Mass-Index (BMI) setzt das Körper-Gewicht zur -Größe ins Verhältnis. Je höher der BMI, desto schwerwiegender ist das Übergewicht. Wir sahen, dass mit steigendem BMI auch der Anteil unseres neu entdeckten Immunzell-Subtyps im Fett steigt.

Mit dem Body-Mass-Index (BMI) in sieben verschiedenen Personen steigt auch der Anteil des von uns neu entdeckten Immunzell-Subtyps im Fett.

Besonders auffällig an den von uns entdeckten Immunzellen war ein Molekül, das man bisher nur von Immunzellen im Gehirn (den sogenannten “Glia-Zellen”) kannte [3]. Das Molekül trägt den etwas kryptischen Namen “Trem2”. Die Frage lautete: Was macht dieses Hirn-Molekül im Fett? Um auszuschließen, dass es sich lediglich um eine zufällige Korrelation handelt, mussten wir überprüfen, ob das Molekül für die Funktion der Immunzellen im Fett wichtig ist. Also schalteten wir das Molekül Trem2 in den Immunzellen von Mäusen aus. Und siehe da: Die Mäuse ohne Trem2 wurden wesentlich fetter und zeigten auch mehr Cholesterin, andere Fett-Bausteine und Zucker in ihrer Blutbahn. Ihnen fehlten die von uns neu entdeckten Immunzellen. Weil diese allem Anschein nach etwas mit Lipiden, den Fett-Bausteinen, zu tun hatten und überdies zu den großen Fresszellen, den “Makrophagen”, zählten, nannten wir sie “Lipid-Assoziierte Makrophagen”; oder kurz LAM-Zellen.

L A M C

Wie können die LAM-Zellen dafür sorgen, dass das böse Cholesterin nicht in die Blutbahn gelangt? Die Antwort lautet: Sie umlagern die Fett-Zellen. Wenn sich Fett ausdehnt wachsen meist die einzelnen Fettzellen an, bis sie schließlich platzen. Dann wird das Cholesterin und all die anderen Fett-Bausteine aus dem Inneren der Fett-Zellen freigesetzt. Die Substanzen gelangen folglich in die Blutbahn, wo sie den Stoffwechsel negativ beeinflussen und krank machen. Tendenziell befinden sich in den Fett-Zellen auch Botenstoffe, die die Entzündungsreaktion hervorrufen können. All dies wird jedoch verhindert, wenn die LAM-Zellen die Fett-Zellen umlagern. So formen sie eine Kronen-artige Struktur (“crown-like structure“, siehe Cover-Abbildung oben), die das Austreten von Cholesterin & Co. unterbindet.

Für die Bindung und Entgiftung der von den Fett-Zellen freigesetzten Stoffe sorgt Trem2, das auf dieselbe Weise im Hirn Plaques entsorgt und so der Entstehung von Alzheimer vorbeugt. Da LAM-Zellen im Englischen “LAM Cells” heißen und mit LAMC abgekürzt werden können, ergibt das (wirklich rein zufällig) die Synthese aus meinen Initialen, sowie dem MC, dem “Master of Ceremony“, also einem Rapper. Ich habe es mir deshalb nicht nehmen lassen, das Thema in einem Rap zu verarbeiten, den ich in Tucson, Arizona, performt habe, wie hier zu sehen ist. Der Auftritt war (im Deutsch-Rap-Neu-Sprech) so, wie sich unsere Haupterkenntnis zusammenfassen lässt: MEHR ALS NUR FETT!

Bei Übergewicht reichert sich ein neu entdeckter Immunzell-Subtyp (i.e. LAM-Zellen) im Fett an. Die Umlagerung der Fett-Zellen mit LAM-Zellen in Kronen-artigen Strukturen verhindert die Freisetzung von Cholesterin in die Blutbahn. LAM-Zellen können so der Verschlimmerung des Krankheitsbildes bei Übergewicht entgegenwirken.

Jaitin*, Adlung*, Thaiss*, Weiner*, Li*, et al. (2019). Lipid-Associated Macrophages Control Metabolic Homeostasis in a Trem2-Dependent Manner. Cell 178, 686-698.e14. (* equal contribution)

Unsere Entdeckung könnte in Zukunft zu einer LAM-Zell-basierten Behandlung von Übergewicht führen. Aber als Wissensschaffende müssen wir vorsichtig bleiben und weitere Versuche abwarten. Unsere bisherigen Forschungsergebnisse haben wir im renommierten Fachmagazin Cell veröffentlicht. Die Arbeit ist bis zum 13. September 2019 noch frei verfügbar unter: https://authors.elsevier.com/c/1ZSCbL7PXYVaH. Alle Daten sind dauerhaft öffentlich zugänglich. Der Quelltext, um die Computer-gestützte Auswertung nachzuvollziehen, kann auf Bitbucket eingesehen werden. Insgesamt ist das MEHR ALS NUR FETT – DAS IST FREIE FORSCHUNG, PHÄNOMENAL!

Rezension Sibylle Berg GRM Brainfuck

Wäre diese Rezension eine wissenschaftliche Veröffentlichung, würde man einen Interessenkonflikt angeben müssen. Ich befand mich mit der Autorin Sibylle Berg, die ich schon lange zuvor bewundert hatte, seit dem 22. September 2016 in Kontakt, und habe mit ihr diverse wissenschaftliche Aspekte der Geschichte recherchiert und diskutiert. Demgemäß werde ich in der Danksagung unter “Nerd-Kontrolle” aufgeführt.

Das Buch thematisiert im Titel das vorwiegend britische, gesellschaftskritische Rap-Genre Grime (“GRM”), welches für die zentralen Personen der Geschichte, vier verhärmte Heranwachsende, eine wichtige Rolle spielt. “Brainfuck” spielt auf die psychische, physische und digitale Gehirn-Manipulation an, die im Buch ebenfalls von großer Bedeutung sind.

Die Geschichte beginnt in den ersten Jahren dieses Jahrtausends und reicht einige Jahre in die Zukunft. Sie spielt in Großbritannien, zunächst in Rochdale, einer Kleinstadt unweit von Manchester, später in London. Die Hauptpersonen sind die vier Kinder bzw. Jugendliche: Don, Hannah, Karen und Peter. Sie werden, wie viele Akteure, mit einigen Stichworten zu Meta-Daten eingeführt. Da steht dann beispielsweise: “Carl. Gesundheitszustand: Risikogruppe Bluthochdruck. Politisches Verhalten: konservativ. Manipulationsmöglichkeiten: leicht empfänglich für rechtsextreme Propaganda. Sexuelle Orientierung: Pornos.” Den vier Hauptpersonen hat jeweils das Schicksal übel mitgespielt. Sie zählen zur absoluten Unterschicht. Ihre Eltern kümmern sich nicht um sie, misshandeln sie, verstoßen sie, oder kommen selbst zu Tode. Don, Hannah, Karen und Peter sind extremer Armut, Gewalt, Krankheit und sozialer Kälte ausgesetzt, sodass sie irgendwann nur noch in ihrer engen Gemeinschaft so etwas wie Trost (emp)finden. Sie haben nicht viel, aber sie haben einander. Sie legen eine Bestrafungsliste an, um sich an ihren Peinigern zu rächen.
Für diese Rache nutzen die Hauptpersonen gesellschaftliche Trends, die in unserer Gegenwart bereits in Anfängen zu erkennen sind, und im Buch stringent weitergedacht werden, bspw. das exzessive Nutzen sozialer Medien, den achtlosen Umgang mit persönlichen Daten, die Verwendung künstlicher Intelligenz usw. Don, Hannah, Karen und Peter leben zunächst im Internet und sehnen sich nach den Sphären der Grime-Stars. “Sie hielten ADHS nicht für eine Krankheit, die Alten waren einfach unerträglich langsam.” Doch dann beerdigen sie ihr Daten-/Konsum-Verhalten, indem sie ihre “Endgeräte” vergraben. In der britischen Gesellschaft, aber auch weltweit, wenden sich die Tendenzen derweil ins Extrem. So entscheidet eine Künstliche Intelligenz über die Weiterbeschäftigung eines Laborchefs nach dessen kurzem wie belanglosen Monolog. Es existieren zwar vereinzelt Zweifel, “ob es eine brillante Idee ist, Automaten die Entscheidungsgewalt über jeden Bereich des Lebens zu geben.” Aber die Hauptpersonen versuchen, gewissermaßen eine ganzheitliche Konterrevolution zu starten…
Männer werden zum Grundübel der Welt erklärt. “Kein besonders origineller Ansatz.” Aber vermutlich ein berechtigter. Nach einer Vergewaltigung wusch sich beispielsweise Karen zwei Stunden, “wissend, dass sie damit alle Klischees verwirrter Mädchen erfüllte, die natürlich selber irgendwie schuld an allem waren, hauptsächlich, weil an ihnen kein Penis befestigt war.”

Die Sprache des Romans ist wie die geschilderte Welt: brutal, kalt, direkt. Halbsätze, Ellipsen, Zeilenumbrüche mitten im Satz die von einer Szenerie in die nächste überleiten, und die an die sprunghafte Aufmerksamkeit ADHS-betroffener Jugendlicher erinnern: “Karen sieht aus dem Fenster – ein unfassbares Licht ist da draußen.
Da wartet

Don
In diesem Licht,(…)”
Die Erzählweise ist mitunter auch bruchstückenhaft, wenn zu einer Erklärung angesetzt wird, die abrupt endet: “(…) gilt es, das gerechte System der Kassen…« Und so weiter.”
Der Ton erinnert mitunter an die Kolumnen und Theaterstücke von Sibylle Berg, wenn sie zu ihren messerscharfen Gesellschaftsdiagnosen ansetzt und soziale Schichten seziert. Etwas unglücklich ist jedoch, das einige Phrasen der Erzähl-Stimme, wie “Verdammte Hacke”, oder “scheißt der Hund drauf”, von einzelnen Personen übernommen werden, was sprachlich unsauber wirkt. Die linear erzählte Geschichte liest sich ansonsten dynamisch und kurzweilig, wenngleich die Ausschraffierungen des Gesellschaftsbildes mitunter etwas redundant sind und Kürzungen vertragen hätten.

Insgesamt ist die Lektüre jedoch sehr zu empfehlen. Auf dem Buchrücken heißt es, die im Roman beschriebene Welt sei keine Dystopie, und, es werde nicht schlimm. Aber – ganz frei von jedweden Interessenkonflikten – sollten wir alle gemeinsam mit einer Debatte über unsere zukünftige Gesellschaft beginnen. Dazu liefert dieses Buch hoffentlich einen Anstoß.